Der britische Physiker Peter Higgs war zuletzt in aller Munde. Forscher am CERN hatten den mutmaßlichen Nachweis des von ihm in den 1960er-Jahren vorhergesagten Higgs-Bosons bekannt gegeben.
Der von ihm vorgeschlagene Higgs-Mechanismus erklärt, wie Elementarteilchen zu ihrer Masse kommen - und spielt auch jenseits der Elementarteilchenphysik eine Rolle.
Ein internationales Forscherteam hat mit Hilfe von Neutronenstreuexperimenten erste Hinweise darauf gefunden, dass eben dieser Mechanismus einen Phasenübergang von exotischen magnetischen Zuständen in Yb2Ti2O7-Kristallen nahe des absoluten Nullpunkts erklären kann.
Bei der Abkühlung eines als "Quanten-Spin-Eis" bezeichneten Zustands beobachteten sie zum ersten Mal Anzeichen für den spontanen Austausch mit dem von Higgs vorhergesagten Higgs-Feld in einem Magneten. Die Ergebnisse sind in der renommierten Fachzeitschrift 'Nature Communications' [siehe unten] nachzulesen.
Phasenübergänge beschreiben, wie ein Material von einem Zustand in einen anderen wechselt. Ein gängiges Beispiel ist das Schmelzen von Eis. Daneben gibt es auch Phasenübergänge von elektronischen und magnetischen Zuständen. Die Magnetisierung von Eisen vollzieht sich beispielsweise unterhalb einer bestimmten, kritischen Temperatur alleine aufgrund der elektromagnetischen Wechselwirkungen zwischen Elektronen und deren magnetischen Momenten, den Spins. Doch nicht alle magnetischen Phasenübergänge lassen sich auf diese Weise erklären. Das zeigen die Ergebnisse eines Teams aus deutschen, taiwanesischen, japanischen und britischen Wissenschaftlern, die erste experimentelle Hinweise auf einen sogenannten Higgs-Übergang in Yb2Ti2O7-Kristallen bei Temperaturen nahe des absoluten Nullpunkts gefunden haben.
Die Existenz dieses Phasenübergangs war bereits lange bekannt, nicht aber, was dabei genau passiert. Erst Experimente mit polarisierten Neutronen an einer Außenstelle des Forschungszentrums Jülich an der Forschungs-Neutronenquelle Heinz Maier-Leibnitz (FRM II) in Garching bei München klärten das Rätsel. Solche Experimente ermöglichen, die magnetische Struktur von Materialien mit atomarer Auflösung zu messen. Die hohe Intensität der Garchinger Neutronenquelle ermöglichte zudem, die schwachen Signale der Probe zu detektieren. Nicht zuletzt konnten dort die Experimente bei den notwendigen tiefen Temperaturen durchgeführt werden.
Die Wissenschaftler vom Forschungszentrum Jülich sowie aus Forschungseinrichtungen in Taiwan, Japan und Großbritannien untersuchten zunächst die Phase oberhalb von 210 Milli-Kelvin und fanden dabei ein so genanntes "Quanten-Spin-Eis" mit magnetischen Monopolen. Der Physiker Paul Dirac hatte solche magnetischen Monopole bereits 1931 vorhergesagt. Experimentell ließen sich lange Zeit jedoch nur magnetische Dipole nachweisen. Diese besitzen ähnlich wie ein Stabmagnet zwei gegensätzliche Pole, die sich nicht voneinander trennen lassen. Erst 2009 ließen sich erstmals auch magnetische Monopole in "klassischem" Spin-Eis beobachten. Diese verhalten sich wie einzelne, isolierte Nord- oder Südpole, ähnlich wie einzelne magnetische Ladungen. Die Spins, ordnen sich dabei nach demselben Muster an wie Wassermoleküle im Eis. Wobei das untersuchte Quanten-Spin-Eis ein deutlich geringeres magnetisches Moment als normales Spin-Eis besitzt.
"Bei Temperaturen von über 210 Milli-Kelvin formen die magnetischen Monopole des Quanten-Spin-Eises ein sehr komplexes Muster. Unter 210 Milli-Kelvin dagegen ordnen sie sich schlagartig parallel an, also ferromagnetisch wie in Eisen", erläutert Dr. Yixi Su vom Jülicher Zentrum für Forschung mit Neutronen (JCNS). In der Quantenphysik ist ein solcher Übergang bei extrem tiefen Temperaturen als Bose-Einstein-Kondensation bekannt. Diese setzt aber voraus, dass die beteiligten Teilchen eine Masse haben. Doch die betroffenen magnetischen Monopole sind normalerweise, wie auch im Fall des beobachteten Quanten-Spin-Eises, masselos. Es handelt sich um sogenannte Quasi-Teilchen, die erst durch das Zusammenspiel mehrerer Elektronen entstehen und wie eine Art Welle durch den Kristall wandern. Die Forscher gehen daher davon aus, die typischen Kennzeichen eines Phasenübergangs basierend auf dem Higgs-Mechanismus beobachtet zu haben. "Das wäre der unseres Wissens erste Nachweis eines Higgs-Übergangs in einem Magneten", berichtet Su.
Der Higgs-Mechanismus erklärt als zentraler Bestandteil des physikalischen Standardmodells, warum Teilchen - auch Elektronen und Quarks, aus denen sich die Atomkerne zusammensetzen - überhaupt eine Masse haben. Verantwortlich ist das sogenannte Higgs-Feld, das im ganzen Universum gegenwärtig ist. Das Feld selbst entzieht sich der direkten Beobachtung. Aber Elementarteilchen - und auch Quasi-Teilchen wie die magnetischen Monopole in diesem Fall - können damit wechselwirken und erhalten dadurch ihre Masse.
Solche quantenmechanischen elektromagnetischen Phänomene genau zu verstehen, ist wesentlich für das Verständnis der modernen Physik. Unter anderem unsere heutige Informationstechnologie basiert darauf. Die Forscher wollen nun Yb2Ti2O7 als Modellsystem nutzen, um interessante Eigenschaften von Quanten-Spin-Flüssigkeiten zu untersuchen. Dabei setzen sie auch weiter auf Neutronenstreuexperimente. "Keine andere Methode ist derzeit sensitiv genug", so Su.
Zusatzinformationen:
Lieh-Jeng Chang, Shigeki Onoda, Yixi Su, Ying-Jer Kao, Ku-Ding Tsuei, Yukio Yasui, Kazuhisa Kakurai und Martin Richard Lees:
Higgs transition from a magnetic Coulomb liquid to a ferromagnet in Yb2Ti2O7..
In: Nature Communications; online veröffentlicht am 07. August 2012, DOI 10.1038/ncomms1989
Quelle: Forschungszentrum Jülich
Aktualisiert am 07.08.2012.
Permalink: https://www.internetchemie.info/news/2012/aug12/spin-eis-magnet.php
© 1996 - 2024 Internetchemie ChemLin